Alexander

Der Durchschnittspatient verlässt die urologische Abteilung des Krankenhauses mit einem Harnwegsinfekt.

Das ist so eine Sache, die das Wasserlassen zu einer unmöglichen Angelegenheit werden lässt. Man bittet den Urologen seines Vertrauens um einen Kopfschuss, damit das alles ein Ende hat.

Statt dessen wird man breitbandig mit einem Antibiotidingsbums der zweiten Generation bedient und mit einem Plastikschlauch mit Gardena-Patentverschluss versorgt, den man bei Bedarf durch die Betätigung eines Schiebers freischaltet. Herrlich!

Alles ist also wieder in Ordung. Nur das Geregelte, der Schlaf zu bürgerlichen Zeiten klappt noch nicht so ganz.

So komme ich also auf Alexander.

Alexander war der Sonnenschein der Station A2. Sein Zimmer, das er allein für sich hatte, war am Ende des Flures.

Wenn wir an unserem Tischchen am anderen Ende des Flures saßen, konnten wir ihn kommen sehen und freuten uns. Er war nicht so schnell, weil er eine Art Garderobenständer auf Rollen mit sich führte.

Eine Errungenschaft, die es Chemo-Patienten ermöglicht, das Bett zu verlassen und mit den diversen Flaschen und Dosierungsgeräten auch mal den Aufenthaltsraum aufzusuchen. Die Geräte arbeiten eine gewisse Zeit auch ohne Steckdosenanschluss.

Alexander war (und ist) ein fröhlicher 20jähriger Mann, der alle auf dem Flur, einschließlich des Personals aufheiterte. Er hatte das gewisse Etwas, das die Jugend auszeichnet.

Er erzählte, dass er sein Sperma vor der Operation hatte sichern lassen, damit er im Bedarfsfall noch Vater werden konnte. Sein Hodenkrebs war zwar nur einseitig. Aber man konnte ja nie wissen.

Sein Vater war Schlachter, die Geschwister zahlreich, das Familienleben lustig. Sein Vater war einmal umgefallen, weil er die blutige Hand nicht verkraftete, die ein Sohn ihm einmal vorzeigte.

Alexander befand sich im dritten Lehrjahr als Tischler bei einer Firma, die im norddeutschen Raum Treppen aller Art mit der neuesten Technik herstellte. Sein Chef hatte zu ihm gesagt: „Alex, werde erstmal wieder gesund“. Er hatte seinem Arbeitsplatz sicher, auch nach der Ausbildung.

Die Chemotherapie ist offensichtlich eine anstrengende und deprimierende Angelegenheit. Sie ist, so erzählte Alexander, mit Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schlaflosigkeit und noch anderen Widrigkeiten verbunden.

Seine Therapie war die erste von zunächst drei Behandlungen, die in einem gewissen zeitlichen Abstand stattfinden. Die Haare gehen dabei vorübergehend auch verloren, wie man bei einem anderen Kumpel auf der Station mit gleicher Diagnose sehen konnte.

Das alles konnte Alexander nicht die gute Laune verderben, mit der er uns alle ansteckte.

Ich wünsche Dir alles alles Gute, lieber Alexander.

Walter

Hier sitze ich in der Nacht und beobachte misstrauisch die urologischen Vorgänge in mir.

Mit verschiedenen Maßnahmen wie Beckenbodengymnastik, Herummarschieren im Steuerberaterloft, Weißweinverbrauch, Wasser und Aspirin versuche ich die Parameter des Wasserablassvorgangs zu meinem Vorteil zu beeinflussen.

Das Rennen ist offen. Doch nun Schluss damit.

Walter soll hier das Thema sein. Um es vorweg zu nehmen, ich möchte nicht wie Walter sein. Und Walter möchte nicht sein wie ich.

Im Krankenhaus, das ich bisher als stationärer Patient nicht kannte, war ich mit Walter auf Gedeih und Verderb verbandelt. Er war in unserem Zweibettzimmer der Nachfolger von Rainer, dessen Prognose ganz schlecht war. Lassen wir das mit Rainer. Ein trauriger Fall. Update: Rainer ist verstorben.

Walter, ein Vollblutmensch, schon fast einmeterneuzig groß, nach seinen Angaben (mit stolzem Unterton) wohl so 120 Kilo schwer, mit Wampe, aber nicht mit der Wampe, die bei manchen Zeitgenossen über dem Gürtel nach unten fließt.

Also das Bild eines Mannes, mit sonorer Stimme und vollem Haupthaar, würdig ergraut, sowohl oberhalb der Stirn als auch unterhalb der Nase.
Seine 52 bisher verlebten Jahre bildeten ein schlüssige geistig-physische Einheit, die er mit Inbrunst verkörperte.

Wir erkannten, dass wir uns nicht gegenseitig mit Samthandschuhen anfassen mussten. Unser derb vorgetragener Humor gefiel uns, den Schwestern, den Pflegern und den urologisch Beladenen, die auf dem langen Flur der Abteilung A2 herumschlichen.

Als Walter nach seinen beiden vorgenommenen Nierensteinentfernungen wieder in unserer Zimmer hinein geschoben wurde, schnappte ich den Terminus „Dream Team“ auf, mit dem die bettschiebende Schwester offenbar uns, den Walter und mich, meinte.

Wir okkupierten, wenn wir nicht gerader akut postoperativ danieder lagen, die winzige Aufenthaltsecke am Ende des Flures, die man so gerade eben mit einem Tischchen und zwei bis vier Stühlen ausgestattet hatte.

In der Abteilung A2 war diese der Patientengemeinschaft dienende Wohnecke stark unterdimensioniert, möglicherweise weil Patienten der allgemeinen Abteilung nicht so sehr der gepflegten Kommunikation über die Zimmergrenzen hinaus bedürfen, wie der Privatpatient, der in der Abteilung A6, hoch über uns, mit schöner Aussicht über den Kieler Hafen und als Gast des Allmächtigen, des Professors, residiert.

Die Ecke, die wir VIP-mäßig okkupierten, war unser Standort, mit dem wir den gesamten Flur kontrollierten.

Nun sei noch kurz die anfangs angedeutete Inkompatibilität zwischen Walter und mir beschrieben, auf die wir uns übrigens einvernehmlich einigten.

Meine Wenigkeit will ich hier nicht im Detail charakterisieren, weil zu privates nicht in dieses Weblog gehört. Soviel sei gesagt, dass es Augenblicke ohne Walter gab, die ich für entspanntes Herumsitzen oder Herumliegen nutzte, um zu dösen oder auch mal die Kieler Nachrichten oder den Stern zu lesen. Die Phasen brauchte ich zur Regeneration.

Walter dagegen brauchte die Kommunikation. Pausenlos. Wenn seine Mutter ihn nicht besuchte, und das stundenlang, erschien seine Frau, die, nach Walters Worten, nach längerer Lernphase jetzt so denken und handeln würde wie er.

Walters Frau habe ich kennen gelernt. Sie sagte nicht viel, aber lächelte immer. Walters Mutter dagegen war voll des Lobes für ihren Sohn. Sie erzählte es gerne und Walter hörte wohlwollend zu. Sein Bruder wäre mehr ein Versager und konnte wohl auch nicht in diesem Umfang mit mütterlicher Zuwendung rechnen.

Nun, zum Schluss, kurz eine Auflistung, warum Walter diametral anders als meine Wenigkeit ist:

Walter ist ein Ausbund an Aktivität. Er gesteht ein, dass er nicht in der Lage ist, ein Buch zu lesen. Aber das ist ja auch nicht wichtig.

Nun die Liste seiner Aktivitäten, die ununterbrochen seine Präsenz, unterstützt durch die willige Ehefrau, verlangt:

Walter ist Busfahrer in einem Reisebus. Er hat nicht nur das Fahrzeug sondern auch das Publikum perfekt im Griff. Er ist der Star seines Busunternehmers.

Walter ist nebenbei Automatenaufsteller. Die Geldspielgeräte, die seine Frau neben ihrem Beamtenjob abkassiert, befinden sich in fremden und eigenen Gaststätten.

Walter besitzt neben seinem privaten Anwesen (mit Schäferhund) noch drei Gaststätten in eigenen Immobilien, die mit Pächtern und Walters Geldspielgeräten ausgestattet sind.

Walter hat noch eine selbstgebaute Halle (er baut alles selbst). Diese Halle ist die Basis für sein selbstgezimmertes Imperium. Neben hallendeckenhoch gestapelten Geldspielgeräten steht da der kleine LKW, mit dem die Gastättenlogistik abgewickelt wird.

In der Halle steht aber auch ein russischer KAMAS-LKW, den Walter als Reisemobil ausbaut, um, wenn es denn soweit ist, damit Afrika zu bereisen. Seine Frau wird natürlich mitkommen. Der KAMAS ist ein wahres Wunder, stark und unverwüstlich.

Walter kann mit bloßen Händen Nüsse aller Art knacken. Allerdings nicht Paranüsse.

Walter hat von einem HSV-Bonzen ein 14 Meter langes Motorboot mit zwei MAN-Motoren gekauft. Das Boot liegt im Moment noch aufgebockt in einem Hafen am Südzipfel Italiens. Walters Planungen laufen, um dieses Gerät über die Straßen der uns bekannten Welt in den Norden zu überführen.

Als ich Walter, um nicht wie ein Wurm zu erscheinen, von unserem Bücherbestand erzählte, der vielleicht 2000 Bücher umfasst, konzedierte er, dass seine Präferenzen nicht in diesem Bereich lägen. Um Bücher zu lesen würde ihm nun wirklich die Zeit fehlen. Unterschwellig spürte ich, dass er mich in die Kategorie „Armer Poet“ einstufte. Sie wissen schon, dieser Spitzwegtyp, der im Bett ein Buch liest, während er versucht die Regentropfen, die durch das undichte Dach dringen, mit einem Regenschirm abzuwehren.

Es dauerte aber nicht lange, nachdem ich mich als Bücherwurm geoutet hatte, dass Walter mich fragte, ob ich denn einen Videorecorder hätte.
Nachdem ich das verneinte, unser Recorder wäre schon längst verscherbelt, outete er sich im Gegenzug und verkündete, dass er (und seine Frau) einen Bestand von rund tausend Videokassetten horten würden.

Seine besondere Vorliebe (und die seiner Frau) wären Disney-Filme. Als Walter mir diese Vorliebe für Goofy und Donald Duck gestand, habe ich ihm gerne bestätigt, dass ich das verstehen würde. Der intensive, fordernde Blick aus Walters Augen, liess nichts anderes zu.

Was bleibt noch zu sagen… Ach ja, das Paar blieb kinderlos.

Walter machte Versuche, mich im pädagogischen Bereich zu beraten. Immerhin ziehen meine Gattin und ich eine fast siebzehnjährige Tochter auf. Das blockte ich aber erfolgreich ab. Ich sprach Walter die Kompetenz zu, einen Hund zu erziehen. Dazu konnte Walter nur nicken. Dass seine Frau einmal durch einen ihrer Hunde gebissen wurde, war ein Versehen.

Was bleibt noch, um zum Ende zu kommen?

Ach ja. Walter (und seine Frau) lieben liebliche Weine.

Das fand ich bedenklich.

PS: Walter (und seine Frau) werden dies hier nicht lesen. Für das Internet, außer für akquisitorische Dinge, hat er (und seine Frau) keine Zeit.