Mitten in der Stadt

Immer wenn ich auf Inlinern meine Runde drehe, komme ich zuerst den Westring entlang. Das ist ein breite, mehrspurige Strasse mit Mittelstreifen. Auf meiner Seite ist ein breiter, mit Betonplatten gepflasterter Bürgersteig, der sich sehr gut zum Inlinern eignet.

Wie man das so kennt, fahren auf der Straße zwar viele Autos, aber der Bürgersteig ist wenig benutzt. Er wirkt oft wie ausgestorben. Rechter Hand zieht sich über hundert oder zweihundert Meter eine dichte Hecke hin und hinter der Hecke befindet sich ein Sportplatz und etliche Schulgebäude.

An einer bestimmten Stelle besteht die Hecke aus Brombeersträuchern, dahinter ist ein vielleicht drei Meter breiter Rasenstreifen, der wiederum ein einstöckiges Gebäude, das als Schulklasse dient, abgrenzt.

Voriges Jahr hatten wir ja diesen bombastischen Sommer und als ich mit Töchterchen, die schon ein recht verständiges Mädchen ist, auf Inlinern dort vorbei lief, sahen wir die Brombeerbüsche und in den Büschen ganz viele vollreife Brombeeren und das mitten in der Stadt.

Wir konnten nicht widerstehen, und haben die Beeren gepflückt und sofort gegessen. Ich erinnerte mich an sonnige Kindertage, und auch bei Töchterchen, die als Stadtkind aufgewachsen ist, zeigte sich Freude über diese idyllische Ernte mitten in der Stadt.

Es mag altmodisch sein, aber an dieser Stelle folgt nun das Gedicht von Theodor Fontane:

Herr von Ribbek auf Ribbek im Havelland,
ein Birnbaum in seinem Garten stand,
und kam die goldene Herbsteszeit
und die Birnen leuchteten weit und breit,
da stopfte, wenn´s Mittag vom Turme scholl,
der von Ribbek sich beide Taschen voll;
und kam in Pantinen ein Junge daher,
so rief er:“Junge, wist´ne Beer?“
Und kam ein Mädel, so rief er:“Lütt Dirn,
kumm man röwer,ick hebb´ne Birn.“

So ging es viele Jahre, bis lobesam
der von Ribbek auf Ribbek zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. ´s war Herbsteszeit,
wieder lachten die Birnen weit und breit;
da sagte von Ribbek:“Ich scheide nun ab,
legt mir eine Birne mit ins Grab.“
Und drei Tage drauf aus dem Doppeldachhaus
trugen von Ribbek sie hinaus.
Alle Bauern und Bädner mit Feiergesicht
sangen:“Jesus, meine Zuversicht,“
und die Kinder klagten, das Herze schwer:
„He is dod nu. Wer giwt uns nu´ne Beer?“
So klagten die Kinder. Das war nicht recht,
ach, sie kannten den alten Ribbek schlecht.
Der neue freilich, der knausert und spart,
hält Park und Birnbaum strenge verwahrt;
aber der alte, vorahnend schon
und voll Mißtrau´n gegen den eigenen Sohn,
der wußte genau, was damals er tat,
als um eine Birne ins Grab er bat.
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.

Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
und in der goldenen Herbsteszeit
leuchtets wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung übern Kirchhof her,
so flüsterts im Baume:“Wist´ne Beer?“
Und kommt ein Mädel, so flüsterts:“Lütt Dirn,
kumm man röwer, ick gew die´ne Birn.“
So spendet Segen noch immer die Hand
des von Ribbek auf Ribbek im Havelland.

Auch in meiner kleinen Geschichte ist nun ein Jahr vergangen. Der Sommer ist kein Sommer, alles ist zwar in sattem Grün, aber es fehlt die Sonne, damit alles schön reif werden kann.

Und nun das Schlimmste: Die Brombeerbüsche sind radikal gestutzt worden. Sie wurden so stark zurück geschnitten, dass wohl in absehbarer Zeit nicht mehr mit schönen, reifen Brombeeren zu rechnen ist. Der Herbst ist zwar noch nicht ganz da, aber die Hoffnung auf Brombeeren ist zerstoben.

Wir, die Familie, haben an einem dieser regnerischen Tage meine schon recht betagte Mutter besucht. Aus der Bäckerei hatten wir schon beim Brötchenholen drei Pflaumen-Streifen gekauft, die wir zum Kaffee bei meiner Mutter mit auf den Tisch stellten. Diese Pflaumen-Streifen spielen in dieser Geschichte eine gewisse Rolle.

Kurz und gut, wie es so kommt, habe ich von den drei Streifen zwei gegessen und auch noch Kaffee dazu getrunken. Auch der Kaffee spielt eine Rolle.

Um die Sache abzukürzen: Wir fuhren so gegen vier wieder nach Hause, der Regen hatte aufgehört und wir hatten nach dem Besuch noch einen gewissen Aktiondrang.

Also radelten wir die drei Minuten zu einer stadtbekannten Gaststätte um noch etwas zu ’schnacken‘ und eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken.

In meinem Fall war es eine sogenannte ‚Vorspeisenplatte‘, die aus mediterranen Kleinigkeiten, getränkt in viel Olivenöl unter Beifügung der einschlägigen Gewürze bestand. Ich glaube, nein ich bin sicher, dass auch dieses Gericht hier eine Rollte gespielt hat.

Getrunken wurden von mir dann noch drei leckere Holsten-Biere und zwar jeweils ein halber Liter. Das hat mir nichts ausgemacht, ist aber für diese Geschichte wichtig.

Kommen wir zum Ende. Mein Beschäftigungdrang war immer noch nicht abgeflaut, ich warf mich in meine Inliner-Klamotten, war mir der familiären Unterstützung meines Tuns sicher (was sehr wichtig ist) und rollerte los.

Das Unvermeidliche geschah. Just an der Stelle, die ich schon beschrieben habe, fing es in meinem Gedärm fürchterlich zu rumoren an. Es steigerte sich zu kolikartigen Schmerzen und ich dachte: „Das gibt es doch nicht!“. Die Situation war unmöglich, nicht akzeptabel.

Ich begab mich hinter die Brombeerhecke, wo sich eine erstaunlich ruhige Stelle auftat, die von der Straße aus nicht einsichtig war. Das Schulgebäude war gänzlich unbelebt. Ich tat das, was unsere Altvorderen auf Reisen sicher auch gemacht haben und was Wüstenreisende dem Vernehmen nach auch heute noch praktizieren müssen.

Es gelang, ich muss sogar sagen gut, und der weitere Verlauf dieses späten Nachmittags und des Abends war durchaus harmonisch. Das, was unter der Brombeerbüschen nun als gewissermaßen verselbständigter Teil meines Inneren weiter existiert, wird sich in kürzester Zeit mit der Erde verbinden und sicher auch seinen Nutzen haben.

Als ich mich am nächsten Tag überwand, und in trauter Runde der Familie diese Details erzählte, zeigte sich auf dem Gesicht des Töchterchens eine stille Freude und sie sagte: „Papa, ich glaube die Brombeeren werden besonders schön werden!“.

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