Die Mauer

Heute hätten wir wohl nicht spazieren gehen sollen.

Schon während der kurzen Autofahrt zum Kanal kroch ein unbehagliches Gefühl in die Glieder und irgendwie auch in die Köpfe.

Wir sprachen es nicht aus, aber ich bin sicher, dass wir die gleichen Worte dachten, wie es bei Paaren, die schon länger zusammen sind, nicht selten vorkommt.

Am Kanalufer überfiel uns dann die durchdringende Kälte mit aller Macht. Der leichte Nebel verlieh dem Ganzen nicht diese geheimnisvolle Aura, die man gerne solchem Wetter zuordnet.

Es war irgendwie menschenleer-morbid, aber es ist schon schwer, dafür Worte zu finden.

Der Weg am Kanal wird von vielen Menschen nicht geschätzt, weil er vordergründig wenig Abwechslung bietet. Auf der einen Seite des sich sterotyp dahin ziehenden doppelten Betonbandes ist die Kanalböschung und auf der anderen Seite, der Kanal, dessen Wasser heute kalt, abweisend und völlig bewegungslos vor sich hin brütete.

Der Schock kam ohne Vorwarnung.

Neben dem Weg lag ein toter Schwan, dessen Kopf abgerissen war. Das Weiß des Gefieders kontrastierte brutal mit dem blutigen Rot an der Stelle, wo ein Mensch oder ein Tier sich an dem Schwanenhals vergriffen hatte.

Meine Frau zog mich entsetzt weiter. Gleichwohl machte ich noch ein Foto, oder vielmehr glaubte ich ein Foto gemacht zu haben.

Später, beim Überspielen der Bilder, fehlte dann dieses Motiv, was mich sehr sehr nachdenklich gemacht hat.

Im weiteren Verlauf, als wir mit beschleunigten Schritten weiter gingen und uns über das Gesehene ausschwiegen, sahen wir diese Laterne, eine der vielen Laternen, die das Kanalufer säumen.

Die Laterne blinkte. Nur diese Laterne blinkte. Sie blinkte nicht gleichmäßig, sondern pulsierend, unregelmäßig, kommunizierend.

Die Laterne gab uns ein Zeichen.

Wir wurden angewiesen, die Treppe neben dem vereisten Wasserfall hinauf zu gehen. Wenn sie jetzt fragen, wie das möglich ist, dass uns genau dieses mitgeteilt wurde, muss ich die Anwort schuldig bleiben.

Es war eben so.

Oben angekommen, öffnete sich eine Höhlung, in die nur noch gefiltertes Licht eindringen konnte. Die Laterne schimmerte durch dichtes Gestrüpp hindurch. Jetzt zeigte sie das Dauerlicht, wie alle anderen Laternen.

Wir befanden uns nun in einem Raum, der hallenartig durch dichtes Gezweig gebildet wurde. Ein Teil des festgefrorenen Bodens wurde von dem Bach durchflossen, dessen Wasserfall wir gerade eben gesehen hatten.

Aber zwischen dem Gestrüpp war eine Mauer zu sehen. Wir dachten an einen Grabstein, der vielleicht aufgrund alter Privilegien hier vor langer Zeit mal errichtet werden durfte.

Aber es war kein Grabstein, sondern eine Mauer, an der diese Zeichnung sichtbar wurde.

Uns hielt hier nichts mehr. Wir traten fluchtartig den Rückweg an, fanden irgendwie das Auto und fuhren schweigend nach Hause.

Gut, dass es mir gelungen ist, das Zeichen auf der Mauer im Bild festzuhalten. Jedenfalls dieses Bild ist nicht auf mysteriöse Weise vom Datenspeicher der Kamera verschwunden.

Ich bin fast sicher, dass der von uns besuchte Ort nicht mehr aufzufinden ist. Von einer Benachrichtigung wissenschaftlicher Institutionen werde ich daher absehen.

4 Gedanken zu „Die Mauer“

  1. wenn ihr nicht nach Hause geflüchtet wäret, hätte das ein prima Krimi werden können. Weiter so! Da ist schreiberisches Talent erkennbar, das nicht weiter verschüttet bleiben darf. Ich würde das erste Buch kaufen. Ehrlich!

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